Philippe Starck "A. I. Chair": Diesen Stuhl hat ein Computer entworfen - DER SPIEGEL

2023-03-23 16:28:48 By :

Der Mensch sieht bekanntlich nur, was er weiß. So geht es einem auch bei diesem Stuhl: In Spritzgussverfahren gefertigt, in verschiedenen Farben erhältlich, mit einer nur angedeuteten Armlehne und zwei filigranen Stützen. Sie wachsen aus der Rückseite der Stuhllehne und münden in zwei Stuhlbeinen. Unter der Sitzfläche und dem Armlehnenstumpf befinden sich Streben, die im Winkel angebracht sind. Eine fast schon klassische Philippe-Starck-Form.

Nun heißt das Modell aber "A. I. Chair". Die beiden ersten Buchstaben stehen für artificial intelligence, künstliche Intelligenz. Es ist laut Hersteller "der erste von künstlicher Intelligenz und Menschen gemeinsam entwickelte Stuhl." Menschen meint in dem Fall Philippe Starck und die Programmierer beim US-amerikanischen Softwarehersteller Autodesk. Sie haben den Code geschrieben für die im Rechner erzeugte Kreativität.

A. I. Chair von Philippe Starck: "Anfang einer großen Freiheit"

Das klingt spektakulär und nach Science-Fiction. Vor allem weil Philippe Starck nach eigenen Angaben nicht mal einen Computer besitzt. Was mag ihn also dazu bewogen haben, ausgerechnet mit einer künstlichen Software-Intelligenz zu arbeiten? "Der Stuhl A.I. steht am Anfang einer großen Freiheit - einer umwälzenden Veränderung, wie sie menschengemachte Revolutionen gar nicht mehr bewirken könnten", wird der französische Designstar auf der Firmenwebseite zitiert. Doch was bedeutet das genau?

Als Starck vor zweieinhalb Jahren ins Projekt einstieg, sei noch vieles im Entstehen gewesen, sagt Arthur Harsuvanakit, Senior Designer im Forschungsteam von Autodesk. Er und seine Kollegen, erklärt er während eines Telefoninterviews in San Francisco, wären so etwas wie Mensch-Maschine-Dolmetscher gewesen. Starck lernte durch die Arbeit mit der Software, und die Software lernte von ihm und seinen Entscheidungen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse übersetzte Harsuvanakits Team dann in Programmiersprachen wie Python oder C++. Genauer möchte er es nicht verraten.

Die Technik ist neu, aber das Ziel war alt: Es sollte um nicht weniger als "die optimale Form" gehen. Optimal unter einigen gegebenen Parametern, versteht sich. Ganz zu Beginn fütterte man das Programm mit Schlüsseldaten von Starcks Entwürfen. Sein Stuhlmodell Louis Ghost beispielsweise diente als Referenz für die Kontaktpunkte mit dem menschlichen Körper: Rückenlehne, Sitzfläche, Armauflagen.

"Die Winkel, die minimalistisch gestalteten Oberflächen, das alles haben wir von seinen früheren Designs genommen. Trotzdem wollten wir die Formfindung so wenig wie möglich beeinflussen", sagt Entwicklungsdesigner Harsuvanakit. Philippe Starck habe einen ganz neuen Ausgangspunkt gesucht: "Er wollte sich nicht vom Diktat einer Stuhl-Architektur bestimmen lassen."

Aus den Vorgaben errechnete ein Computer dann verschiedenste Varianten eines Stuhls. Generatives Design nennen Experten das. Dabei geht die KI keineswegs automatisch den gewünschten Weg - sie muss ihn erst lernen. Am Anfang war der Stuhl noch unbequem. Die KI wusste ja erst einmal nur etwas von Struktur. "Doch genau hier kommt der Designer ins Spiel, um die Lücken zu füllen", sagt Harsuvanakit.

Ein weiteres Problem war der Materialverbrauch. Der Stuhl sollte im Spritzgussverfahren hergestellt werden, dabei wird der Werkstoff verflüssigt und in eine Form gespritzt. Das ermöglicht eine Massenproduktion zu geringen Kosten. Um einen Menschen tragen zu können, musste das Material aber eine minimale Wandstärke von sechs bis acht Millimetern haben. Wie lehrt man ein Computerprogramm das Prinzip: so viel wie nötig, so wenig wie möglich?

"Generatives Design ist ein zielgerichteter Prozess", erklärt Harsuvanakit. "Wenn man zum Beispiel die Masse eines Designs minimieren möchte, dann wird das System die leichteste Lösung innerhalb der gegebenen Parameter dieser funktionalen Beschränkungen bereitstellen. Aber es liegt am Designer, diese Beschränkungen richtig zu kommunizieren beziehungsweise zu übermitteln - wie beispielsweise die statische Belastbarkeit." Ein ständiges Wechselspiel: Mit jedem Zwischenergebnis besteht die Möglichkeit zur Feinjustierung, weshalb das generative Design auch unter "Forschungsvorhaben" läuft.

Beim A. I. Chair war die Forschung letztlich erfolgreich. Er ist stabil und kommt mit dem rechnerisch minimalen Materialverbrauch aus. Dass er zu 100 Prozent aus recyceltem Kunststoff aus Produktionsabfällen besteht, verbessert seine Umweltbilanz zusätzlich.

Braucht es in Zukunft also womöglich gar keine Designer mehr? Arthur Harsuvanakit glaubt nicht an autorenloses Design. Mit den Arbeitsprozessen und neuen Werkzeugen änderten sich die Rollen und Aufgaben von Gestaltern und Produktentwicklern. Man könne simulieren, wie sich ein Entwurf mit völlig anderen Materialien entwickeln würde. Genauso wie die Schritte vom Entwurf zur Fertigung. Das spart Ressourcen und Arbeitszeit.

Und trotzdem: Eine künstliche Intelligenz ist immer noch ein Werkzeug. "Ich denke, das wird die Disziplin weiter befeuern. Aber es wird immer dieses Bedürfnis geben, ein Gestaltungsproblem mit dem Werkzeug zu kommunizieren, und diese Probleme ändern sich ständig", sagt Harsuvanakit.

Gestaltung meint der Entwickler dabei umfassend, als "Übersetzung kultureller und sozialer Probleme in technische Möglichkeiten". Aber auch hier sei das Design stets nur so gut wie die Kommunikationsfähigkeiten des Designers. "Es ist unmöglich, die ganze Realität in einen Computer zu übersetzen", sagt er.

A. I. Chair von Philippe Starck: "Anfang einer großen Freiheit"

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